Es gibt keine zwei Schleiereulen mit identischem Gefieder. Mit ihren Variationen von strahlendem Weiss bis zu dunklem Rotbraun mit oder ohne schwarze Flecken auf Bauch, Brust, Flügeln und Flanken zeigt sich das Gefieder der Schleiereule in vielen Erscheinungsformen; man sagt, es ist polymorph. Diese Farbunterschiede werfen Fragen hinsichtlich ihres Ursprungs und ihrer Funktion auf. Ein wichtiges Thema für unsere Forschungsgruppe, die sich seit über 30 Jahren damit beschäftigt.
Die Melaninpigmente sind die Grundlage der Gefiederfärbung bei der Schleiereule. Melanin ist im Tierreich weit verbreitet und beispielsweise auch verantwortlich für die unterschiedlichen Haar- und Hautfarben beim Menschen. Es gibt mehrere Arten von Melanin: Das sehr dunkle Eumelanin gibt bei der Schleiereule zum Beispiel den schwarzen Punkten am Bauch ihre Farbe, das Phäomelanin färbt ihr Gefieder rotbraun.
Die Färbung aufgrund des Melanins ist erblich und damit grösstenteils genetisch festgelegt. Eltern und Kinder sind also ähnlich gefärbt, da bei ihnen die gleichen Gene für die Bildung der Melaninpigmente sorgen. Wir untersuchen, welche Gene für diese Färbung verantwortlich sind und wie sie mit anderen physiologischen oder verhaltensbiologischen Merkmalen der Eulen in Zusammenhang stehen. Eins der Gene, die wir dabei gefunden haben, heisst MC1R. Es handelt sich um ein kodierendes Gen für einen Melanocortinrezeptor. Melanocortine sind Hormone, die unter anderem die Bildung von Melanin regulieren. Eine Mutation auf diesem Gen erklärt 30 % der Farbvariationen bei der Schleiereule. Wir untersuchen nun, über welchen Mechanismus dieses Gen sich auf diese Weise auswirken kann.
Wir haben bei der Schleiereule ausserdem einzigartige Variationen eines der Regulatorgene von MC1R entdeckt, des POMC (Proopiomelanocortin). Dieses Gen sorgt für die Bildung mehrerer Hormone, die für die Regulierung des Melanins verantwortlich sind, aber auch für die Regulierung von Stress, Immunantwort oder Hunger.
Identifizieren konnten wir auch das Gen, das dafür sorgt, dass die Eulen am Bauch heller sind als am Rücken. Es handelt sich um das Aguti-Gen, das die Bildung eines Proteins anregt, dessen Menge je nach Körperregion der Eule variiert. Diese Variationen beeinflussen die Menge der schwarzen oder rotbraunen Pigmente, die in der Wachstumsphase der Federn gebildet werden.
Wir untersuchen auch, welche Merkmale mit der Färbung der Schleiereule verknüpft sind und welche Gene zu diesen Merkmalen gehören. Unsere Forschungen zeigen, dass die Farbvariationen mit zahlreichen Parametern zusammen auftreten, etwa dem Geschlecht, dem Immunsystem oder bestimmten Verhaltensweisen. Um nur einige Beispiele zu nennen: In der Schweiz sind die Männchen im Durchschnitt weisser als die Weibchen. Die Jungen von Weibchen mit grossen schwarzen Flecken auf Bauch und Brust bilden mehr spezifische Antikörper; das könnte ein Hinweis darauf sein, dass grosse schwarze Flecken beim Weibchen ein Zeichen für ihre gute Eignung als Mutter sind. Die am stärksten rotbraun gefärbten Jungvögel sind eher dazu bereit, ihre Nahrung mit ihren Geschwistern zu teilen. Ein Gen auf einem Geschlechtschromosom oder das Gen POMC sind gute Kandidaten für die Erklärung bestimmter Verknüpfungen zwischen Farben und anderen physiologischen und verhaltensbiologischen Merkmalen.
Farbunterschiede existieren auch auf geografischer Ebene. In jeder Population findet sich eine Mehrheit weisser oder rotbrauner Eulen. Allgemein sind in Europa die Schleiereulenpopulationen im Norden eher rotbraun, während die im Süden heller gefärbt sind. Unsere Analysen haben gezeigt, dass dieses Gefälle kein Zufall ist, sondern aufgrund unterschiedlicher Selektionskräfte im Norden und im Süden erhalten bleibt. In der Schweizer Population ist wegen der zentralen Lage auf dem Kontinent das gesamte Farbspektrum vertreten. Weltweit findet man einen solchen Farbgradienten auch bei den Schleiereulen in Amerika und Australasien sowie bei anderen eng verwandten Arten.
In Inselpopulationen sind die Eulen häufig heller und weniger stark gefleckt. In wärmeren, feuchteren Regionen leben zudem eher dunkle Eulen. Schliesslich konnten wir auch zeigen, dass die alte Trennung der Schleiereule in die beiden Unterarten Tyto alba alba (weisse Farbvariante) und Tyto alba guttata (rotbraune Variante) inkorrekt ist, da die europäischen Schleiereulen auf einen einzigen Ursprung zurückgehen. Es handelt sich also immer um Tyto alba alba, der Einfachheit halber auch nur Tyto alba genannt.